6

In dieser Nacht träumte Grace, dass sie mit einem Schwarzen Liebe machte.

Nein, »Liebe machen« war eine viel zu zahme Bezeichnung für den wilden, schmutzigen, köstlichen Sex. Er sah aus wie einer der Typen aus EastEnders, was sie ungeheuer erotisch fand, weil sie noch nie einen Seifenopernstar kennen gelernt hatte - geschweige denn mit ihm geschlafen. »Ich bin unheimlich scharf auf dich, Mädel«, sagte er, während sie sich auf dem Bett wälzten. Der EastEnd-Akzent war leicht abtörnend, aber sie ließ sich davon nicht irritieren, denn der Bursche war wirklich ein Sahneschnittchen. Und sie machten all die Dinge, die sie schon immer hatte tun wollen, von denen sie aber nicht gewusst hatte, ob sie erlaubt waren. Und sein bestes Stück war eine Sensation. Doch plötzlich stand er unvermittelt auf und begann, sich anzuziehen.

»Ich muss los, Kleine - wir drehen um drei. Soll ich dir Dirty Den reinschicken?«

»Ooh, ja, bitte!«

Grace wachte auf. Sie lag in einem fremden Bett, und es war kein Schwarzer aus EastEnders da und Dirty Den auch nicht. Nur Mrs Carrs kratzige Laken und ihr gewöhnungsbedürftiger Dekorgeschmack.

Sie drehte sich auf den Rücken, schaute zur Decke hinauf und fragte sich, warum sie neuerdings so oft an Schmuddeligkeit und Sex dachte - und wieso in ihrem Kopf das eine untrennbar mit dem anderen verbunden war. Hoffentlich würde sie nicht auch noch ein Faible für Pornos entwickeln. Ewan wäre entsetzt. Vielleicht auch nicht. Zumindest war das kein Artikel, den er auf ihrer Einkaufsliste zu finden erwartete, die am Kühlschrank hing. Aber er hatte irgendwann mal damit angegeben, dass er so was schon mal gesehen habe. Doch das war damals gewesen, als sie noch jung waren und es dazugehörte, sich Working Girls 2 anzusehen. (Der bloße Filmtitel ließ einen Schauer über Graces Rücken rieseln. Was war nur los mit ihr?) Schließlich konnte man nicht sagen, dass ihr eheliches Sexleben schlecht war. Nun ja, es mangelte ihm vielleicht ein wenig an Abwechslung. Im Lauf der Jahre hatten sie sich an bestimmte Abläufe gewöhnt wie alle anderen verheirateten Paare, abgesehen von den Perversen, die auf Partnertausch standen und so was. (Vielleicht waren sie ja gar nicht pervers, dachte Grace. Vielleicht hatten sie einfach begriffen, dass Monogamie sowohl unnatürlich als auch ein Versäumnis war.) Hin und wieder schaute einer von ihnen am Samstagabend zu tief ins Glas und versuchte dann, in unbekannte Gefilde vorzustoßen, doch der Nüchterne reagierte verlegen, und außerdem fehlten ihnen immer die notwendigen Lebens-oder Hilfsmittel, und die Erinnerung daran steigerte die Verlegenheit am nächsten Morgen noch. Nein, im Großen und Ganzen blieben sie bei dem Bewährten und Altvertrauten. Ewan schien ganz zufrieden damit zu sein - wenigstens beschwerte er sich nie. Und sie war es ebenfalls, obwohl sie sich nicht weitere vierzig Jahre in demselben Trott vorstellen konnte - oder fünfzig, wenn die medizinische Forschung weiterhin solche Fortschritte machte.

Manchmal, wenn sie darüber nachdachte, wie viele Jahrzehnte noch vor ihr lagen, packte sie eine Art von Panik, die sich aus den Jahrzehnten erklärte, die bereits hinter ihr lagen, und dem Gefühl, dass sie sie nicht sonderlich gut genutzt hatte.

Der Duft von gebratenem Frühstücksspeck wehte durch die Türritzen herein. Grace richtete sich auf und zog prüfend die Luft durch die Nase ein. Es roch auch nach Würstchen. Sie war am Verhungern.

Im Kleiderschrank fand sie einen Morgenrock - dem Modell nach Eigentum von Mrs Carr - und warf ihn sich über, denn sie war zu ungeduldig, um sich richtig anzuziehen. Das Kirschrot schmeichelte ihr nicht gerade, und der Nylonstoff kratzte auf der Haut, aber immerhin war das Ding bodenlang und ließ sich bis unters Kinn zuknöpfen, was ihr ungemein wichtig erschien. Sich auszumalen, in Working Girls 2 als Statistin mitzuwirken, war eine Sache - mit einem fremden Mann, der ihr zu verstehen gegeben hatte, dass er nicht bemuttert werden wollte, allein in einem fremden Haus zu sein, eine ganz andere.

Er stand am Herd, als sie in die Küche kam, die Dreadlocks zum Pferdeschwanz gebunden. Es sah sehr reizvoll aus, wie vom Friseur kunstvoll gesträhnt, in Wahrheit aber nur von der Sonne gebleicht. Er warf ihr einen Blick zu und deutete mit dem Daumen in Richtung Tisch. »Setzen Sie sich. Ich mache Ihnen Kaffee.«

»Danke.«

Er drehte sich zum Spülbecken und ließ Wasser in den Kessel laufen. Stille breitete sich aus, nur unterbrochen vom Zischen der Würstchen in der Pfanne. Grace, die über eine zehnjährige Konversationserfahrung verfügte, fiel absolut nichts ein, was sie sagen könnte. Adam schien das Schweigen nicht zu stören. Er bewegte sich völlig entspannt zwischen Herd und Spüle. Grace empfand eine leichte Abneigung gegen ihn und seinesgleichen - Leute, denen es nichts ausmachte, sich wortlos mit anderen im selben Raum aufzuhalten. Leute wie sie wanden sich innerlich vor Verlegenheit in einer solchen Situation und fühlten sich schließlich regelrecht verpflichtet, etwas zu sagen. Irgendetwas. Sie sah sich mit siebzig in Zahnarzt-Wartezimmern und an sonstigen öffentlichen Orten manisch plappern, während die anderen sie mit mordlüsternen Blicken bedachten. Nun, heute würde sie einfach nicht plappern! Sie sah zu, wie er geschickt einen Speckstreifen wendete. Er hatte keine Ahnung, dass das gute Stück gestern Abend in ihrer Unterwäsche gesteckt hatte. Bei dem Gedanken musste sie kichern.

Er schaute sich zu ihr um. »Was ist?«

»Nichts«, antwortete sie heiter. »Und - was haben Sie heute vor?«

Er zuckte mit den Schultern und lächelte sie strahlend an. Er lächelte häufig, dachte sie, wollte damit wohl eine unbeschwerte Natur dokumentieren, aber irgendwie kaufte sie ihm die nicht ganz ab. »Rumhängen. Vielleicht den Rasen der alten Lady mähen. Mrs Carr, meine ich. Sie haben doch gesagt, dass sie noch nicht richtig fit sein wird, wenn sie aus dem Krankenhaus kommt.«

Grace war entsetzt. »Aber ...«

»Und es muss auch was mit den lockeren Dielen im Wohnzimmer geschehen. Sie sind gefährlich, vor allem für jemanden, der nicht ganz sicher auf den Beinen ist.«

»Aber ich dachte, Sie würden heute ausziehen.« Diesmal machte er ein ernstes Gesicht, als er mit den Schultern zuckte. »Ich habe schon überall angerufen. Nirgendwo ist etwas frei.«

»Mrs Carr kommt am Freitag nach Hause. Das ist übermorgen«, konstatierte sie in drängendem Ton. »Bis dahin bin ich auf jeden Fall weg«, versprach er. »Adam ...«

»Geben Sie mir noch eine Nacht! Kommen Sie - Sie werden mich doch nicht auf die Straße setzen, oder?« Er schenkte ihr einen so gewinnenden Blick, dass sie schauderte. Obwohl sie wusste, dass sie sich nicht erweichen lassen sollte - schließlich war es nicht einmal ihr Haus! -, ließ sie ein Anflug von Perversion und wahrscheinlich auch Verlangen murmeln: »Also schön - noch eine Nacht.«

»Danke.«

Erst jetzt fragte sie sich, wie sie Mrs Carr den frisch gemähten Rasen und die befestigten Fußbodenbretter erklären sollte. Sie könnte beides Frank in die Schuhe schieben, obwohl er nicht aussah, als ob er wüsste, mit welchem Ende des Hammers man zuschlug.

Adam stellte zwei mit herrlich fettigem Essen beladene Teller auf den Tisch. Toast und Kaffee folgten auf dem Fuße. Es sah himmlisch aus. Sie hatte seit Jahren kein solches Frühstück gehabt, geschweige denn ein nicht selbst zubereitetes.

»Essen Sie«, kommandierte er. »Sie müssen ein bisschen Fleisch auf die Knochen kriegen.«

Wann hatte er sich mit ihrem Knochenbau beschäftigt bevor oder nachdem er sie nach ihrem Freund fragte?

»Wie alt sind Sie?«, erkundigte sie sich.

»Warum?«

»Nur so.«

»Was glauben Sie denn?«

»Ich mag keine Ratespiele.«

»Warum nicht?«

»Darum nicht. Sie sind albern.«

»Und Sie sind zu alt dafür, stimmt‘s?«

»Wir reden hier nicht über mein Alter«, sagte sie und bedauerte, das Thema angeschnitten zu haben. »Nur einmal raten! Bitte!« Er machte Hundeaugen. Also gut. »Dreiundzwanzig«, sagte sie in scharfem Ton. »Falsch.«

»Wissen Sie was? Es interessiert mich nicht mehr. Geben Sie mir bitte die Butter.«

»Sie müssen mehr oder weniger sagen.«

»Die Butter, bitte.«

»Es ist weniger. Ich bin noch nicht dreiundzwanzig.«

»Im Moment würde ich Sie auf drei schätzen.« Er lachte. »Ich bin zwanzig. Und Sie schätze ich auf... neununddreißig.«

»Was?«

»Mehr oder weniger?«

»Weniger! Weniger-weniger-weniger!« Sie musste jetzt lächeln.

»Ich habe doch nur einen Witz gemacht.« Er musterte sie aufmerksam, und sie wurde sich unangenehm ihres ungewaschenen und zweifellos speckschwartenglänzenden Gesichts bewusst. »Ich würde sagen, Sie sind dreiunddreißig. Vielleicht auch vierunddreißig.«

»Treffer! Ich bin vierunddreißig«, sagte sie noch immer lächelnd, aber ein wenig enttäuscht, dass er sie nicht für jünger gehalten hatte. Dreißig, vielleicht. Mit selbstzufriedener Miene nahm er sich noch einen Toast. (Er mochte selbstsicher sein, aber an seiner Sensibilität müsste er noch ernsthaft arbeiten.) »Und was führt Sie nun wirklich nach Irland?«, fragte sie. Er schaute sie überrascht an, als müsse sie das eigentlich wissen.

»Full Blast.«

»Full Blast?«

»Das Musikfestival.«

»Oh.« Es würde so eines wie in Gladstonebury, aber mit dem Schwerpunkt Rock. Nick war vor zwei Jahren dort gewesen und fast eine Woche nicht mehr gesehen worden. »Es findet ganz in der Nähe statt, nicht wahr?«, sagte sie.

»Vier Meilen von hier«, bestätigte Adam, und Grace fragte sich, ob Frank davon wusste. Er musste es wissen. Das Festival fand schon das fünfte oder sechste Jahr statt. Letzten Sommer hatten Zehntausende mit Zelten und Wohnwagen die Gegend in Besitz genommen.

»Dann sind Sie also ein Musikfan.« Sie gab sich redlich Mühe, nicht wie eine altjüngferliche Tante zu klingen, aber aus irgendeinem Grund brachte er sie dazu, sich viel älter zu gebärden, als sie war. Vielleicht hatte ihre Psyche da einen Verteidigungsmechanismus in Gang gesetzt - schließlich war er ziemlich attraktiv, wenn man Machogehabe mochte. Und sie war eine Frau, deren Mann und Kinder verreist waren ...

Ihre Gedanken amüsierten sie. Als ob sie jemals die Nerven für so was hätte! (Vor Jahren hatte sie auf der Weihnachtsfeier der Firma einer der Seniorpartner angemacht. Er war mindestens sechzig, und er war betrunken gewesen und hatte die Hand auf ihren Arm gelegt und gesagt, sie sei entzückend. Natürlich hatte sie sich später bei den Mädchen über ihn lustig gemacht, und sie hatten sich totgelacht, aber das Wort »entzückend« blieb ihr im Gedächtnis. Es war ein außergewöhnliches Wort, nicht so etwas Alltägliches wie »klasse« oder »sexy«, und es war seit Jahren das Schmeichelhafteste, was ein Mann zu ihr gesagt hatte - und sie beschwor es jedes Mal herauf, wenn Ewan und sie Krach hatten.)

»... nicht, dass ich besonders scharf auf diese Musik wäre, aber ich kann sie ertragen«, endete Adam. »Wie ist es mit Ihnen?«

Wie sollte was mit ihr sein? »Tut mir Leid - das habe ich nicht verstanden«, hoffte sie ihre Unaufmerksamkeit verschleiern zu können.

»Ist nicht wichtig.« Es missfiel ihm sichtlich, dass sie nicht an seinen Lippen gehangen hatte. Nun sieh sich das einer an! Er war tatsächlich beleidigt!

Grace wagte nicht zu lächeln. Offenbar kam es nicht oft vor, dass jemand diesen Jungen - Mann? - ignorierte. Vor allem keine Frau.

Er beendete sein Frühstück schnell und schweigend und stand dann auf. »Wissen Sie, wo sie den Rasenmäher hat?«

»Sie könnten es im Schuppen versuchen.«

»Richtig.«

Steifbeinig und mit sehr geraden Schultern verschwand er nach draußen. Grace kaute genüsslich auf einem Streifen Frühstücksspeck herum. Schmeckte er so besonders köstlich, weil er geklaut war?

Julia wurde von lautem Schnarchen geweckt. Sie warf einen giftigen Blick zu der alten Schachtel Ivy aus Cork hinüber, die gestern Abend alle mit Geschichten aus ihrer Jugend zu Tode gelangweilt hatte. Als wäre keine von ihnen jemals jung gewesen! Sie redeten nur nicht ständig darüber. »Julia? Sind Sie okay?«

In diesem Laden musste man nur blinzeln, und schon kam eine Schwester angestürzt. So viel zu den Einsparungen im Gesundheitswesen.

»Ja, ja. Ich gehe nur mal auf die Toilette, wenn ich darf.«

»Ich hole Ihnen eine Bettpfanne.«

»Ich will keine Bettpfanne.«

»Aber, aber.« Die Schwester schnalzte mit der Zunge, wie sie das irritierenderweise alle taten, als hätten sie es mit zu groß geratenen Fünfjährigen zu tun. »Sie sind frisch operiert, Julia, und Sie sollen überhaupt nicht aufstehen.« Jetzt war Diplomatie gefragt. Also lächelte Julia mit einem sorgfältig dosierten Schuss Verzweiflung und legte vertraulich die Hand auf den Arm der Schwester. »Ich weiß, aber es ist mir zu peinlich, eine Bettpfanne zu benutzen. Wenn Sie mich bis zur Toilette stützen könnten ... das wäre ganz reizend von Ihnen ...«

»Sie werden Krücken brauchen«, gab die Schwester nach, holte sie ihr, griff jedoch zusätzlich in Julias Achselhöhle und trug sie mehr oder weniger zur Toilette. Dort angekommen, riss die Schwester Julias Nachthemd hoch - »Hinsetzen!« -, drückte sie auf den Toilettensitz - »Bequem?« gab ihr einen Haufen Toilettenpapier in die Hand - »Da!« und schärfte ihr ein zu klingeln, sobald sie fertig wäre. »Natürlich«, sagte Julia mit dem kläglichen Rest Würde, der ihr geblieben war.

»Ach ja«, fiel der Schwester ein, »es sind Blumen für Sie gekommen. Von einer Grace.«

Grace? Julia forschte in ihrem Gedächtnis. Sie kannte keine Grace. Konnte es jemand aus JJs Familie sein? Die kamen immer unter irgendwelchen Steinen hervorgekrochen, wenn etwas Schlimmes passiert war. Aufrecht zu sitzen wie jetzt gab ihr Gelegenheit, zum ersten Mal ihren lädierten Fuß zu sehen. Nicht, dass viel zu sehen gewesen wäre - nur ein weißer Verband, der an einer Stelle von einer gelblichen Flüssigkeit durchweicht war. Sie hatte keine Schmerzen. Natürlich war sie mit Morphium voll gepumpt. Allerdings ließ die Wirkung allmählich nach, was sie begrüßte, denn es machte alles sehr unklar und vage. Jemand hatte sie angeschossen, da war sie ganz sicher. Oder?

Wie sie da auf dem kalten WC-Sitz saß und ihre knochigen, weißen Knie unter dem bekleckerten Krankenhaushemd hervorstachen, fühlte sie sich plötzlich schwach und klein und wollte die Schwester rufen, die bullige Schwester, die mit einem einzigen Wort alles besser machen konnte. Sie sehnte sich nach JJ. Manchmal, wenn sie nachts aufwachte, war die Stille so tief, dass sie den Schlag ihrer Lider hören konnte. Es war das einsamste Geräusch der Welt.

Die Krücken waren starr und ungewohnt, und sie brauchte zwei Anläufe, um ihre Arme richtig in die grauen Plastikhalterungen zu stecken. Aber sie schaffte es. Und es gelang ihr auch, die Toilettentür zu öffnen, ohne der Länge nach hinzuschlagen. Hurra! Es war schon recht grausam, wie das Alter den Leistungsstandard veränderte: Heutzutage war es schon ein Grund zum Feiern, wenn sie sich aufrecht hielt. Als sie ins Zimmer zurückkam, lagen dort Michael und Gillian auf der Lauer. Sie hatten sich offenbar an der Stationsschwester vorbeigemogelt.

»Hallo!« Julia hoffte, dass es freundlich klang. »Etwas früh für einen Besuch, oder?«

»Wir wollten doch wissen, wie es dir geht, Mammy«, sagte Michael.

»Wir haben dir Trauben mitgebracht.« Gillian schwebte an ihr vorbei zum Nachttisch. Andere Frauen dufteten nach Parfüm - Gillian roch nach Sagrotan. Immer.

»Wie geht‘s mit deiner Bronchitis?«, erkundigte sich Julia. »Sind die Untersuchungsergebnisse inzwischen gekommen?«

Gillian schaute sie leicht misstrauisch an. »Nein - aber ich fühle mich viel besser.« Ihre Kieksstimme klang atemlos. »Viel wichtiger ist, wie es dir geht.«

»Großartig«, antwortete Julia und setzte in vertraulichem Ton hinzu: »Ich hatte gerade Verdauung.« Darauf herrschte einen Moment lang Schweigen, wonach ihre Besucher sich Stühle holten und sich setzten. Michael füllte seinen mehr als aus. Gillian hockte auf der Kante wie ein magersüchtiger Vogel. Manchmal versuchte Julia sich die beiden im Bett vorzustellen. Wie schaffte er es, sie nicht zu zerquetschen? Allerdings war sie eine Frau, die körperliche Betätigungen jeglicher Art verabscheute, und so ergab sich dieses Risiko höchstwahrscheinlich nur selten. Etwa zweimal im Jahr, großzügig geschätzt. Armer Michael. Sie musste damit aufhören. Immerhin waren sie ihre Familie, die Einzigen auf der Welt, die noch zu ihr gehörten. Niemand konnte etwas dafür, dass sie nichts gemeinsam hatten.

»Der Arzt war heute früh da«, eröffnete sie die Konversation.

»Ach ja?«, quietschte Gillian. Man sollte sie mal ölen, dachte Julia.

»Er war einer der Ärzte, die sich um JJ kümmerten, als er eingeliefert wurde«, erzählte sie weiter.

»Tatsächlich?«, sagte Michael.

»Erinnerte sich sofort an JJ, als ich ihn erwähnte. Sagte, er hätte vorher noch nie jemanden nach einem schweren Schlaganfall aufrecht im Bett sitzen sehen.«

»Stell dir vor!«, quiekte Gillian.

»JJ war sogar in der Lage, ihm die Fußballergebnisse mitzuteilen - ist das zu glauben? Aber geistig war er immer auf Zack. Einmal, in den Alpen, brach er sich beim Klettern ein Bein. Das war, als er an dieser Brücke in der Schweiz arbeitete, Gillian. Die Schmerzen müssen schrecklich gewesen sein, aber er ließ sich den Leuten gegenüber, die ihn runterbrachten, nichts anmerken.«

»Ich weiß. Das hast du mir schon mal erzählt«, murmelte ihre Schwiegertochter.

Julia konnte sich nicht daran erinnern - aber es gab ja so viele Geschichten über JJ.

»Hör mal, Mammy - Gillian und ich haben uns unterhalten, und wir würden gern was drauflegen, damit du privat liegen und behandelt werden kannst«, sagte Michael. Er hatte ihr überhaupt nicht zugehört.

»Warum?«

»Du hättest dann ein eigenes Zimmer, und es gibt einen Arzt hier, Dr. Murphy ...«

Sie war noch immer gekränkt über seine Unaufmerksamkeit. »Ich bin sehr zufrieden mit meinem Arzt.«

»Wir wollen doch nur dein Bestes, Mammy.« JJ und sie hatten nie eine private Krankenversicherung gehabt. JJ war überhaupt nicht weitblickend gewesen, was Geld anging. Wenn du etwas hast, gib es aus, lautete sein Motto, und danach handelten sie, bis nichts mehr da war. »

Wenn die gesetzliche Krankenversicherung für JJ gut genug war, dann ist sie es auch für mich«, erklärte sie loyal.

»Aber er ist gestorben«, sagte Gillian.

»Gillian!« Michael war entsetzt.

»Was? Ich konstatiere nur eine Tatsache ...«

»Lass das! Du regst Mammy auf.«

Gillian lachte gereizt. »Ob ihr es glaubt oder nicht - der Mann war sterblich!«

»Gillian!« Er wandte sich Julia zu. »Ich muss mich für Gillians Taktlosigkeit entschuldigen, Mammy. Es tut mir sehr Leid.«

Gillian wurde rot und sagte hölzern: »Ja, das war wirklich taktlos von mir. Entschuldige, Julia.« Von gegenüber, aus Ivys Bett, kam ein lauter Furz. Er verstärkte die Dampfkochtopfatmosphäre noch.

Michael beugte sich auf seinem Stuhl vor, räusperte sich und sprudelte heraus: »Wir haben arrangiert, dass dich jemand besucht, Mammy.«

»Wer?«

»Eine Art Sozialarbeiter.« Gillian lächelte, was ihr jedoch sichtlich Mühe machte.

Julias Neugier erwachte. »Aber kein richtiger Sozialarbeiter?«

»Nein«, antwortete Michael. »Er ist eher ein ... nun ja, eine Art...«

»Eine Art?«

»Psychiater.«

»Ein Seelenklempner?«

Gillian stieß ein nervöses Lachen aus. »Heutzutage nennt man sie nicht mehr Seelenklempner, Julia. Sie sind mehr so etwas wie Freunde. Dr. Brady ist ein Freund. Er ist mein Psychiater.«

»Dann muss er in der Lage sein, Wahnsinn zu erkennen, wenn er ihm begegnet«, meinte Julia trocken. Gillians Augen wurden kalt.

»Hört mal, ich bin nicht irre«, setzte Julia hinzu. »Also vergesst die Idee ganz schnell wieder, mich in eine Anstalt zu sperren.«

Michael sah sie geschockt an. »Mammy! Was um Himmels willen redest du denn da?«

»Ich habe euch gestern gehört. Ihr wolltet euch ›etwas überlegen‹. Ich lasse mich nicht wegsperren.«

»Dich in eine Anstalt zu bringen wäre das Letzte, was wir wollten! Stimmt‘s, Gillan?«

»Ja«, bestätigte sie, doch es schwang deutlicher Zweifel in ihrer Stimme mit.

»Was Dr. Brady betrifft, Mammy«, fuhr Michael fort, »so möchten wir nur, dass du dich mit ihm unterhältst. Vielleicht gibt es ein paar Dinge, die du in dich hineingefressen hast und dir gern von der Seele reden willst.«

»Zum Beispiel?«

»Ich weiß nicht. Vielleicht gibt es Unbewältigtes im Zusammenhang mit Dads Tod ...«

»Es gibt nichts Unbewältigtes im Zusammenhang mit JJs Tod.« Jetzt war sie wütend. »Ist es mir nicht gestattet zu trauern?«

»Natürlich ist es das.«

»Ist Trauern nicht angebracht?«

»Selbstverständlich. Ich dachte ja nur ...«

»Michael!«, bremste Gillian ihren Mann und sagte dann in ernstem Ton zu Julia: »Du hast Probleme mit der Polizei. Es ist sehr ernst. Du hast jemanden mit einem Gewehr bedroht, für das du keinen Waffenschein besitzt.«

»Ach, um Himmels willen. Das war doch nur Frank. An den würde ich niemals eine Kugel verschwenden.«

»Die Geschichte ist nicht zum Lachen. Michael hat heute früh mit der Garda gesprochen. Er hofft, erreicht zu haben, dass keine Anklage erhoben wird - weil er versicherte, dass wir dir Hilfe besorgen werden. Psychiatrische Hilfe.«

»Psychiatrische Hilfe!«

»Ja. Das klingt vielleicht nicht sehr hübsch, aber ich bin sicher, dass es dir lieber ist, dich mit einem Psychiater zu unterhalten als mit einem Richter.« Gillian mochte aussehen, als könne ein Windstoß sie forttragen, aber sie wusste genau, wo sie hinschlagen musste, damit es richtig wehtat.

»Ich gebe mich geschlagen«, sagte Julia, doch sie tat es mit Würde.

Sandy hatte ein neues Foto von sich geschickt. Es war heute früh eingescannt und an Franks Computer gemailt worden, und er hatte auf der Stelle fünf Kopien davon ausgedruckt.

»Was ist das da auf ihrer Brust?«, fragte Grace. Frank beugte sich vor, um nachzusehen. »Oh - das ist ein Fehler von meinem Drucker. Ich nehme an, sie gehört unten hin.«

Es war eine verwischte Textzeile. Für Frank. Mit all meiner Liebe - Kätzchen.

»Das ist ein Kosename«, erklärte er jungenhaft-verlegen. »Sie hat auch einen für mich, aber den sollte ich Ihnen, glaube ich, nicht verraten. Er ist ein bisschen ... drastisch.«

»In dem Fall lieber nicht«, stimmte Grace ihm hastig zu. Das Frühstück lag ihr schon schwer genug im Magen. Sie betrachtete das Foto. Sandy sah wieder hinreißend aus. Ihr Make-up war perfekt, die Frisur sorgfältig gestylt. Sie trug einen winzigen Bikini und lächelte ihm von einem Strand aus entgegen.

»Sie war letztes Wochenende mit ihren behinderten Kindern beim Schwimmen«, erklärte Frank. »Sie schreibt, dass es dabei aufgenommen wurde.«

Es waren keine behinderten Kinder im Hintergrund zu sehen - nur ein paar gut und kerngesund aussehende, blonde, die eine Sandburg bauten, wobei ihnen ein ausgesprochen gut aussehender Mann half. Jeder an diesem Strand sah gut aus. Grace konnte keine dicken Menschen entdecken oder Männer mit haariger Brust oder Frauen mit Cellulitis.

Dann fiel ihr etwas anderes auf. »Was ist das da in ihrer Hand?«

Frank musterte die Fotografie mit zusammengekniffenen Augen. »Ein Handtuch. Offenbar hatte sie vor, ins Wasser zu gehen.«

»Es ist ein Geschirrtuch, Frank!«

»Tatsächlich?«

Sie schauten es sich beide noch einmal an. Es war definitiv ein Geschirrtuch. Gestreift und mit Karotten darauf. »Vielleicht hat sie sich vertan«, meinte Frank. »Das kann leicht passieren, wenn man etwas aus dem Wäschetrockner nimmt - besonders, wenn man in Eile ist.«

»Aber sie hält es nicht wirklich in der Hand. Es sieht aus wie darüber drapiert oder so ...«

Es sah seltsam aus - als wäre es nachträglich hineinretuschiert worden. Und es betraf wieder die linke Hand, bemerkte Grace - dieselbe Hand, die auf dem letzten Foto abgeschnitten gewesen war. »Sie sollten Sie darauf ansprechen«, fand sie. Frank machte eine wegwerfende Handbewegung. »Auf ein Geschirrtuch? Wir haben bessere Gesprächsthemen.« Sein Ton ließ sie aufschauen. »Stimmt was nicht?«

»Nein, nein ... nun ja, ich werde nicht in vierzehn Tagen rüberfliegen wie geplant.«

»O Frank!«

»Ihre Schwester hat sich gerade von ihrem Mann getrennt«, berichtete er niedergeschlagen.

»Was für ein Jammer. Aber was hat das mit Ihren Reiseplänen zu tun?«

»Sandy fliegt nach Utah, um ihrer Schwester beizustehen. Das ist wieder typisch Sandy: Sie ist einfach zu gut für diese Welt. Das sage ich ihr immer wieder. Aber sie hat sich bereits Urlaub genommen und fliegt genau an dem Tag, an dem ich ankommen sollte.«

»Das ist ja ein Zufall.«

»Ja, nicht wahr? Aber Sandy sagt, wir vereinbaren einen neuen Termin, sobald ihre Schwester wieder allein zurechtkommt. Que sera, sera, sagt sie - was sein wird, wird sein. Das ist einer ihrer Lieblingssätze. Sie ist eine echte Fatalistin.«

Er schüttelte voller Bewunderung den Kopf.

»Könnten Sie sie denn nicht nach Utah begleiten?«

Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, war er nicht erpicht darauf, sich in die Nähe einer so schweren, weiblichen Krise zu begeben. »Ich glaube, das wäre keine gute Idee. Außerdem hat Sandy sowieso schon alles gebucht, und ich möchte da keinen Wurm reinbringen - vor allem, weil sie so müde ist.«

»Sie ist immer noch müde?« Auf der Fotografie sah sie ganz und gar nicht müde aus. Sie sah hellwach aus - und gesund wie ein Pferd.

»Sie sollte wirklich zum Arzt gehen«, meinte Frank. »Ich werde ihr das gleich per E-Mail vorschlagen.« Er nahm das kostbare Foto in die Hand. »Ach, übrigens - Sergeant Daly hat angerufen.«

Grace erstarrte. Blöder Frühstücksspeck! Würden ihre Schuldgefühle nie vergehen?

»Tom und Charlie sind aus Birmingham rübergekommen, und sie wollen sich das Haus ansehen.«

Sie entspannte sich. »Großartig! Ich rufe im Büro an und lasse jemanden herkommen.«

»Sie zeigen es ihnen nicht selbst?« Frank klang enttäuscht. »Ich bin eigentlich im Urlaub ...«

»Sie müssen doch nur über die Straße ...«

»Ich weiß - aber Natalie vertritt mich.«

»Sie könnten morgen früh kommen. Dann sind Sie doch noch hier, nicht wahr - jetzt, wo Sie diesem Adam erlaubt haben, eine weitere Nacht zu bleiben. Was Mrs Carr wohl dazu sagen würde, wenn sie das wüsste ...« Das hatte er jetzt anbringen müssen! Natürlich! »Sandy sagt jedenfalls, dass es besser ist, wenn nur ein Makler ein Objekt betreut. Sie kennen doch das Sprichwort mit den vielen Köchen, die den Brei verderben, oder?« Er schien davon auszugehen, Grace umgestimmt zu haben, denn er wechselte das Thema: »Sergeant Daly hat gesagt, wir sollen die Augen offen halten - wegen etwaiger Agitatoren.«

»Was?«

»Sie kommen offenbar zu dem Festival. Aktivisten. Es könnte sein, dass sie versuchen, Zimmer zu mieten, meint er.«

»Was für Aktivisten?«

»Keine Ahnung.« Frank verschwand - zweifellos auf dem schnellsten Weg zurück an seinen Computer, um eine schwülstige E-Mail zu verfassen. Was für einen Kosenamen Sandy sich wohl für ihn ausgedacht hatte? Mr Stiffy, vielleicht. Ach nein - sie hatten die Beziehung ja noch nicht vollzogen, fiel ihr ein. Die bloße Vorstellung, dass die beiden es taten, stieß sie ab, und sie ging nach oben, um zu duschen und sich umzuziehen.

Sie zog wieder die Sachen von gestern an. Die Wäsche hatte sie am Abend zuvor gewaschen, und die Socken waren noch nicht trocken, und so war sie barfuß, als sie eine Stunde später mit zwei Kaffeebechern in den Garten hinausschlenderte. Adam war fertig mit Mähen, und es duftete herrlich. Es war Jahre her, dass sie Gras zwischen ihren Zehen gespürt hatte (der Garten zu Hause erschöpfte sich in einer Terrasse mit Grillplatz), und sie wanderte zwischen ins Kraut geschossenen Büschen und einem höchst merkwürdig anmutenden Steinhaufen entlang, der an ein Hünengrab erinnerte - oder an ein windschiefes Grabmal. Vielleicht war hier ein geliebtes Haustier beerdigt. Allerdings musste es dann ein sehr großer Hund gewesen sein. Oder vielleicht ein junger Elefant.

Adam war dabei, mit einer Gartenschere die Hecke am Ende des Gartens zu stutzen.

»Ich habe Kaffee für Sie«, sagte Grace.

»Großartig. Danke. Ich mach das hier bloß noch schnell fertig.«

Sie ließ sich auf dem Rasen nieder und schaute ihm zu. Er trug ein strahlend weißes T-Shirt, das jedes Mal, wenn er die Schere schnappen ließ, hochrutschte. Als sie so dasaß und ihn musterte, kam sie sich ein bisschen wie ein Bauarbeiter vor und musste einige Beherrschung aufbringen, um nicht durch die Zähne zu pfeifen.

»Erzählen Sie. Was studieren Sie?«, fragte sie in einem Ton, der, wie sie hoffte, nicht mehr als höfliches Interesse ausdrückte. Wenn er sich noch ein winziges bisschen weiter streckte, könnte sie seinen Bauchnabel sehen ... »Woher wissen Sie, dass ich studiere?«

»Auf Ihrer Brieftasche klebt ein Sticker von einer Universität.«

»Sie haben geschnüffelt?«

»Ganz sicher nicht. Sie liegt für alle sichtbar auf dem Tisch in der Diele.«

»Warum so aggressiv?«

»Ich bin nicht aggressiv!«, erwiderte sie aggressiv. »Ich mag es nur nicht, wenn man mich der Neugier bezichtigt.«

Er fuhr sich mit dem Arm über die Augen. Die Unterseite seines Pferdeschwanzes war feucht. »Wenn Sie es unbedingt wissen wollen - ich habe die Uni geschmissen.«

»Oh.«

»Das Studium hieß ›Wirtschaftslehre‹.«

»War das kein interessantes Studium?«

»Es war ein tolles Studium. Produzierte letztes Jahr vierundsechzig anständige, kleine Kapitalisten. Genau was die Welt braucht, meinen Sie nicht auch?« Das schien ein Seitenhieb gegen sie zu sein.

Wieder reagierte sie aggressiv. »Warum haben Sie sich dann dafür entschieden?«

»Es war das einzige Studium, für das ich eine Zulassung bekam.« Er lachte freudlos auf und hackte mit der Schere auf einen besonders widerspenstigen Heckentrieb ein. »Ich dachte, Uni wäre interessant«, sagte er nachdenklich. »Ich dachte, ich würde dort Gleichgesinnte finden. Leute mit Meinungen und Überzeugungen und Idealen. Stattdessen landete ich bei einer Horde egozentrischer, markenartikelbesessener Arschlöcher, die sich um den Verstand soffen.« Er klang fast gequält. »Wie war es denn zu Ihrer Zeit?«

»Sie meinen, so vor dreißig Jahren?«, fragte sie spitz. Er lächelte. Sie wurde allmählich besser. »Wahrscheinlich nicht viel anders. Wir tranken auch eine Menge, daran erinnere ich mich noch.«

»Aber hatten Sie eine Meinung?«

»Wozu?«

»Zu Beirut. Weltfrieden. Kommunismus gegen Kapitalismus.«

»Vielleicht. Das weiß ich nicht mehr«, gestand sie schuldbewusst in der Erinnerung an all die vielen Nächte im Pub, wo sie über Sex und Klamotten redeten und über die Möglichkeit, ein Date mit Damien von Applied Physics zu ergattern.

Adam schien ein wenig enttäuscht von ihr. Jedenfalls wandte er sich wieder der Hecke zu. Aber ehrlich - er war so idealistisch! Sollte sie ihm erzählen, dass sie mit sechzehn Vegetarierin gewesen war? Das würde ihn vielleicht beeindrucken. Er brauchte ja nicht zu wissen, dass es nur drei Wochen angehalten hatte und sie eines Sonntags beim Mittagessen schluchzend einem Brathähnchen zu Füßen gesunken war. Oh, wann würde sie erwachsen werden und aufhören, Jungs beeindrucken zu wollen? Ihre eigenen und die anderer Leute?

Sie war so ärgerlich über sich selbst, dass sie ihn, als er sie in einem Ton, der ihr verurteilend erschien, fragte: »Was tun Sie überhaupt hier mitten in der Prärie?«, anfuhr: »Was geht Sie das an?«

»Nichts ...«

»Richtig. Nichts.«

Er ließ sich nicht beirren. »Ich frage nur, weil ich mir nicht vorstellen kann, dass das Landleben Ihr Ding ist.«

»Sie glauben, ich gehöre zu den Frauen, die von Panik gepackt werden, wenn sie mehr als drei Meilen vom nächsten Shoppingcenter entfernt sind?«

Er schaute sie erschrocken an. »Ich habe nur eine simple Frage gestellt...«

Aber sie war jetzt in Fahrt. »Das haben Sie nicht! Ihre angeblich simple Frage enthielt eine Andeutung. Eine Abwertung. Nur weil Sie zwanzig sind, glauben Sie, Sie wissen alles. Nun - das ist ein Irrtum. Und Sie kennen mich nicht, also hören Sie auf, sich zu benehmen, als täten Sie es!«

Er ließ langsam die Heckenschere sinken. »Fühlen Sie sich jetzt besser, nachdem Sie sich das von der Seele geredet haben?«

Sie schaute ihm unerschrocken in die Augen. »Ich war bereit, nett und freundlich zu Ihnen zu sein, und Sie nörgeln ständig an mir herum. Warum tun Sie das?«

Er trank einen Schluck Kaffee. »Ich weiß es nicht«, antwortete er nachdenklich. »Vielleicht, weil ich Sie korrumpieren will.«

Grace stieß ein nervöses Lachen aus. »Mich?«

Seine leuchtend blauen Augen fixierten sie wie quer durch einen dunklen, aufgeheizten Nachtklub. »Ja. Irgendetwas drängt mich dazu. Albern, nicht? Kindisch.« Er lächelte sie an. »Aber ich kann nicht dagegen an.« Er zog sein TShirt aus. Einfach so! Stand halb nackt vor ihr, während sie scheinbar lässig ein abgeschnittenes Gänseblümchen aufhob und zwischen Mittelfinger und Daumen hin und her zwirbelte, als würde man ihr täglich drohen, sie korrumpieren zu wollen.

»Wissen Sie, ich bin nicht zu korrumpieren«, sagte sie leichthin. Hatte das provozierend geklungen? Gütiger Gott!

»Vielleicht ja doch.« Seine Hand ruhte auf dem Bund seiner Shorts, und einen schwindelerregenden Moment lang dachte sie, er würde auch die ausziehen.

»Was soll das heißen?« Sie fragte sich, ob er wohl Unterwäsche trug, doch er zog sich nicht weiter aus.

»Naja«, antwortete er, »Sie sind allein hier auf dem Land, in einem Haus, das nicht Ihres ist, und ohne Kleidung zum Wechseln. Sie fahren einen protzigen Stadtkarren, Sie haben Ihren Ehering oben aufs Waschbecken gelegt, und Sie kennen Mrs Carr nicht besser als ich, stimmt‘s?«

In dieser Weise präsentiert, sah das Ganze schrecklich unseriös aus. Er musste glauben, dass sie entweder vor einem schlimmen Geheimnis von zu Hause geflüchtet war oder eine Landstreicherin, die bei Gelegenheit vorübergehend anderer Leute Häuser in Besitz nahm, dort Pensionsgäste beherbergte und von dem so verdienten Geld lebte. Kein Wunder, dass er dachte, sie wäre vielleicht reif für eine kleine Herausforderung.

Es wurde gefährlich. Grace stand auf. »Ich versichere Ihnen, dass die Gründe für mein Hiersein absolut legal sind«, erklärte sie von oben herab und setzte auf gut Glück hinzu: »Wenigstens ist mir nicht Sergeant Daly auf den Fersen.« Zumindest nicht, wenn keiner die Videoaufzeichnung im Supermarkt überprüfte.

»Wer?«

»Der fliesige Bulle. Kennt man diesen Ausdruck in Tasmanien?«

Sie glaubte Wachsamkeit in seinem Blick aufleuchten zu sehen. Interessant. »Durchaus«, antwortete er.

»Offenbar treiben sich einige Aktivisten in Hackettstown herum. Agitatoren.« Sie gab ihm Zeit, diese Information zu verdauen, und fügte dann dramatisch an: »Ich wurde gebeten, die Augen offen zu halten.«

»Und - tun Sie das? Die Augen offen halten, meine ich?«

»Nun ja - vorsichtig. Man weiß schließlich nie, was solche Leute vorhaben, und ich möchte mich nicht in Teufels Küche begeben.«

Er trat auf sie zu. Wann hatte das letzte Mal ein halb nackter Fremder einen Annäherungsversuch bei ihr unternommen? War es überhaupt schon einmal dazu gekommen? Grace spürte Wärme durch ihren Körper strömen. »Riskieren Sie es«, sagte er. »Vielleicht gefällt es Ihnen.« Die Luft über dem Rasen zwischen ihnen schien zu flirren, und Grace fühlte ihre bemerkenswerte Vernunft und Intelligenz zu Staub zerfallen.

Plötzlich klingelte ein Handy in der Tasche seiner Shorts. »Hallo?«

Sie sah, wie sich sein Gesicht zu einem Lächeln verzog, das sie bei ihm noch nicht gesehen hatte. »Babe! Wie geht es dir?«

Grace bückte sich und hob die beiden Kaffeebecher auf. »Entschuldigen Sie mich«, murmelte sie, ein Lächeln andeutend, und ging ins Haus zurück.